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Chapter 1: Der Anfang vom Ende

„Es ist erstaunlich, wie viele Meetings, Bürokratie und Ignoranz nötig sind, um so wenig zu erreichen.“

Es war ein verregneter Dienstagmorgen. Die grauen Wolken hatten sich wie ein drückender Vorhang über der Stadt zusammengezogen und ihre trüben Schemen spiegelten sich in den bodentiefen Glasfenstern der Zentrale des Klinik-Konzerns. Der große neonbeleuchtete Konferenzraum, in dem sich die Projektbeteiligten versammelt hatten, war voll besetzt. Draußen klopfte der Regen wie ungeduldige Finger an die Fenster, unaufhörlich, gnadenlos. Drinnen herrschte eine unbehagliche Stille. Die Luft wirkte so kalt und steril wie ein Operationssaal. Kein Platz für Fehler, kein Raum für Lebendigkeit.

Am Kopf eines langen, polierten Konferenztisches stand Dr. Klaus van Heerden, der Vorstandsvorsitzende des Unternehmens. Mit seiner strengen Miene und den eisblauen Augen, die über die Runde glitten, wirkte er wie ein General, der seine Truppen musterte. Neben ihm saßen zwei seiner engsten Vertrauten: Michael Sandoval, der Leiter der IT-Abteilung, und Valeria Dupont, die für die strategische Unternehmensentwicklung verantwortlich war. Beide waren berüchtigt für ihre gnadenlose Arbeitsweise und ihren unnachgiebigen Ehrgeiz – Eigenschaften, die ihnen Respekt, aber auch Furcht eingebracht hatten. Die “Eiskönigin” – wie Valeria Dupont hinter vorgehaltener Hand auch genannt wurde – hatte die Arme auf dem Konferenztisch verschränkt und nur das unregelmäßig wiederkehrende kurze Zucken ihres rechten Zeigefingers ließ ihre Anspannung erkennen. Ihr Kollege Sandoval dagegen saß zurückgelehnt auf seinem Stuhl und drehte in Gedanken versunken die wuchtige Armbanduhr an seinem Handgelenk, die – wie Valeria fand – seinen schlechten Stil verriet. 

Von der obersten Leitungsebene waren außerdem Stefan Berger vertreten, der CFO des Unternehmens, sowie Claudia Hartmann, Leiterin der Personalabteilung. Korrekt und unaufdringlich gekleidet wie immer, saßen beide an einer der langen Seiten des Konferenztisches aufrecht auf ihren Stühlen. Stefan Berger hatte die Lippen zusammengepresst. Seine Augen hinter der randlosen Brille waren aufmerksam auf Dr. van Heerden gerichtet. Claudia Hartmann dagegen blickte nachdenklich zu einem der Fenster ihr gegenüber, fast so, als würde sie dem Regen lauschen, der unbeirrte von allem Treiben auf den Glasscheiben tanzend seinem eigenen Rhythmus folgte. Der Rest des Raumes war mit Projektmanagern, Teamleitern und internen wie externen Mitarbeitern gefüllt, die in den letzten Monaten versucht hatten, das ehrgeizige Digitalisierungsprojekt zum Erfolg zu führen. 

Routine im Krisenmodus

Eine von ihnen war Julia Breuer, die Projektleiterin. Sie hatte sich fast ausschließlich durch die Fähigkeit, beeindruckende PowerPoint-Präsentationen zu erstellen, einen Namen gemacht. Auf dem Pro M3 Max vor ihr war eine weitere, perfekt durchstrukturierte Präsentation geöffnet, die sie in den frühen Morgenstunden noch einmal rasch überarbeitet hatte, in der Hoffnung, den Vorstand doch noch von einem positiven Ergebnis überzeugen zu können. Julia spürte, wie ihre Hand leicht zitterte, als sie die Maus bewegte. Sie hatte die ganze letzte Nacht damit verbracht, Zahlen und Grafiken zu polieren, um ein optimistisches Bild zu zeichnen. Und doch wusste sie, dass es keinen Unterschied machte. Jetzt, da Dr. Van Heerden das Wort ergriff, war klar, dass ihre Mühe umsonst gewesen war. Sein Urteil war längst gefällt.

„Meine Damen und Herren,“ begann Dr. van Heerden mit einer Stimme, die so kühl und präzise war wie ein Skalpell, „wir müssen uns der traurigen Wahrheit stellen: Das Digitalisierungsprojekt, in das wir Millionen investiert haben, ist gescheitert.“

Ein leises, unbehagliches Raunen ging durch den Raum, gefolgt von bedrücktem Schweigen. Köpfe senkten sich, Blicke glitten unsicher über die glänzende Tischplatte, als wollten sie sich vor dem unausweichlichen Urteil verstecken. Claudia Hartmanns Blick löste sich vom Regen hinter den Fensterscheiben und schoss hinüber zu Dr. van Heerden. Die Luft war plötzlich dick, als befände man sich in einem Raum, der zu klein war, um so viel Scheitern zu fassen. Manche hielten stumm den Atem an und man konnte förmlich spüren, wie sich das Gewicht des Versagens wie eine bleischwere Decke über ihre Schultern legte. Auf den Gesichtern einiger Anwesender spiegelte sich dagegen weniger Überraschung als Resignation wider, ganz so, als ob sie die Entscheidung bereits erwartet hätten.

Luc Lahnstein, einer der externen Berater und Stratege des Projekts, saß am rechten Rand des Tisches und beobachtete die Reaktionen im Raum. Neben ihm saßen seine anderen externen Kollegen Pia Pfefferkorn, Joshua Flint, Barbara Bär, Torben Tub, Antonia Napier und Dimitri Florakis. Sie alle hatten in den letzten Monaten versucht, das Projekt in die richtigen Bahnen zu lenken – vergeblich. Nun wirkten sie bedrückt, nachdenklich und auch ein wenig wütend. ‚Alles selbst verschuldet‘ stand Pia förmlich auf die Stirn geschrieben – erkennbar allerdings nur für jene, die sie gut kannten, so wie Luc.

Michael Sandoval, dessen Blick durch die dunklen Ränder unter seinen Augen noch härter wirkte, räusperte sich schließlich, nahm die Finger von seiner Armbanduhr und ergriff als Erster das Wort. „Wir standen von Anfang an vor erheblichen technischen und organisatorischen Herausforderungen, die wir vielleicht unterschätzt haben. Die Integration der neuen Systeme war komplexer, als wir es in den Planungen vorhergesehen hatten.“ Seine Stimme klang sachlich, fast schon kühl und distanziert. Er blickte kurz in die Runde und lehnte sich dann entspannt auf seinem Stuhl zurück, die Augen auf die Tischplatte vor ihm gerichtet. In diesem Moment, für einen nur ganz kurzen Augenblick, schien es, als ob ein Ausdruck des Triumphes in seinen Augen aufblitzen würde. 

Luc, der ein sehr guter Beobachter war, spürte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten. Er und Antonia warfen sich einen kurzen Blick zu. Sie hatten es beide wahrgenommen. „Vielleicht liegt das Problem darin,“ setzte Luc vorsichtig an, „dass es von Anfang an keine klare strategische Ausrichtung gab. Wir haben uns ständig im Detail verloren, ohne eine klare Vision zu verfolgen – und entsprechende Hinweise wurden immer wieder hinten an gestellt und vertagt.“ Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, während er sprach und versuchte so die seltsame Unruhe abzuschütteln, die ihn überkommen hatte. 

Flexibilität als fester Plan

Julia Breuer, ihren Pro M3 Max mit der perfekt vorbereiteten Präsentation immer noch vor sich stehend, räusperte sich nervös. „Wir hatten klare Ziele, aber die Marktdynamiken erforderten eine gewisse Flexibilität. Unsere Berichte zeigen, dass wir in den relevanten Bereichen Fortschritte gemacht haben.“ Sie blickte erwartungsvoll zu Dr. van Heerden, doch dessen Gesicht blieb unbewegt. Ihre Verunsicherung wuchs und während sie krampfhaft überlegte, wie sie ihre schöngerechneten Diagramme doch noch platzieren könnte, ergriff Joshua Flint, der kreative Kopf des Teams, das Wort: „Das Problem war doch, dass die Marschroute ständig geändert wurde. Es gab keine Konstanz, keinen roten Faden, dem wir folgen konnten. Wir sind mehr herumgeirrt, als dass wir vorangekommen wären.“ Frustriert lehnte er sich zurück. Ihm waren seine Emotionen immer besonders gut anzumerken, gleichzeitig besaß er die seltene Eigenschaft, trotz aller Emotionalität nie seinen messerscharfen Verstand zu verlieren. 

Nun lehnte sich Barbara Barabas nach vorne, die sich durch die endlosen Änderungswünsche und strategischen Neuausrichtungen hatte kämpfen müssen. „Flexibilität ist das eine, aber wir haben uns ständig im Kreis gedreht. Jeder hat seine eigene Agenda verfolgt, und letztlich gab es keine klaren Entscheidungen. Alles blieb im Konjunktiv – es hätte, könnte, sollte.“, stimmte sie Joshua zu. “Und dazu dann noch das immer wiederkehrende Gerangel mit anderen Projekten um Ressourcen. Wir waren ständig mit Nebenkriegsschauplätzen beschäftigt, ohne im Projekt inhaltlich voranzukommen.” Ihre resolute Ausstrahlung unterstrich die Bedeutung ihrer Worte, während ihr Tonfall sachlich und präzise blieb.

Dr. van Heerden nickte langsam und zog die Diskussion an sich in dem Bemühen, sie nicht aus dem Ruder laufen zu lassen. „Das mag alles zutreffen, doch am Ende zählt nur das Ergebnis. Wir müssen uns jetzt darauf konzentrieren, den Schaden zu begrenzen.“ Doch auch Torben Tub, der Digital-Stratege, konnte seine Frustration kaum noch verbergen. „Es waren nicht nur die fehlenden Entscheidungen. Das Top-Down-Vorgehen, das uns auferlegt wurde, hat jede Initiative im Keim erstickt. Wir haben von oben Anweisungen bekommen, die am Boden einfach nicht funktionierten. Und unsere Hinweise dazu schienen überhaupt nicht gehört zu werden.“ platzte es hitzig aus ihm heraus, der eigentlich immer der Ruhepol im Team war. Er warf Michael Sandoval und Valeria Dupont einen anklagenden Blick zu, doch die beiden zuckten nicht einmal mit der Wimper. Seine Worte prallten scheinbar wirkungslos an ihrer eisigen Fassade ab und verteilten sich wie kalter Nebel im Raum.

Die Kunst der Unsichtbarkeit

Dimitri Florakis, als pragmatischer Kopf des Teams bekannt, ließ sich von der eisigen Stimmung nicht beeindrucken und nickte zustimmend. „Und dann diese Silos. Jeder hat sein eigenes Ding durchgezogen, und am Ende hatte keiner mehr den Gesamtüberblick. Wir haben es mit territorialen Kämpfen zu tun gehabt, die das Projekt in die Länge gezogen und letztlich zum Scheitern gebracht haben.“ Seine tiefe Bariton-Stimme erklang ruhig und souverän und brachte einen Hauch südländische Wärme in die kühle Atmosphäre des Konferenzraums.

Dr. van Heerden ließ seinen Blick über die Runde schweifen, während die Worte der Berater in der Luft hingen. Die Wahrheit war, dass diese Fehler nicht neu waren. Sie waren Symptome eines Systems, das schon lange krankte – ein System, das sich gegen jede Veränderung sträubte. Nun ergriff auch Claudia Hartmann das Wort. “Es ist extrem wichtig, dass wir uns die Muster dieses Scheiterns genau ansehen und nicht immer nur Lehren daraus ziehen, die wir dann in irgendwelchen Dateien abspeichern und nie wieder ansehen. Wir müssen wirklich mal den Finger auf die Wunde legen.” sagte sie in dem für sie typischen, überlegten, unaufgeregten Ton. “Wir können es uns einfach nicht mehr leisten, Mitarbeitende – egal ob sie intern oder extern für uns arbeiten – ständig zu demotivieren. Ansonsten realisieren wir die ganzen Projekte nie, die uns ja eigentlich zukunftsfähig machen sollen.”

Luc bemerkte, wie Michael Sandoval und Valeria Dupont einen kurzen Blick wechselten. Es war ein Blick, den er nicht zum ersten Mal gesehen hatte – ein Blick des Einverständnisses zwischen zwei Personen, die wussten, dass sie etwas verbergen mussten. Die Unruhe, die er zuvor bereits verspürt hatte, regte sich erneut in ihm. Es war das unbehagliche Gefühl, dass hier irgendetwas ganz und gar nicht stimmte. Etwas, das über das eigentliche Projekt hinaus ging.

Vielleicht beim nächsten Mal

Seinem Instinkt folgend griff Luc nach dem Smartphone vor sich auf dem Tisch. Unauffällig zog er es heran und schickte eine kurze Nachricht über SLACK an die sechs anderen Berater:

„Was bleibt uns jetzt noch? Vielleicht sollten wir das in der Kneipe klären. 19:00 Uhr, wie immer.“

Während Julia Bauer noch einmal versuchte, auf ihre Powerpoint-Präsentation aufmerksam zu machen, sah Luc die bestätigenden Antworten der anderen auf seinem Handy aufleuchten und schob das Telefon wieder weg, bevor er sich erneut auf die Besprechung konzentrierte. Wie erwartet kam nichts Substanzielles mehr. Ein paar Erklärungen hier, ein paar Schuldzuweisungen dort. Er und sein Team hielten sich zurück. ‚Irgendetwas stimmt hier nicht‘, ging es Luc immer wieder durch den Kopf. Er hatte schon einige Projekte scheitern gesehen, doch noch nie hatte er dabei ein so nagendes Gefühl der Unruhe verspürt. Sein Blick glitt hinüber zu Michael Sandoval und Valeria Dupont. Die beiden wirkten völlig unbeeindruckt. 

„Das Meeting ist beendet,“ verkündete Dr. van Heerden schließlich und erhob sich von seinem Platz. „Wir werden die notwendigen Schritte einleiten, um den Schaden zu minimieren.“

Alle Anwesenden standen auf, packten ihre Sachen zusammen und verließen einer nach dem anderen den Konferenzraum. Von draußen kam Kim herein, die Werkstudentin, die ab und zu kleinere Aufgaben im Projekt übernommen hatte. Sie bewegte sich durch die noch immer bleischwere Atmosphäre des Raums wie ein Bach durch einen Felsspalt – unaufhaltsam und doch ohne jede Hast. Sie nickte den sieben Beratern kurz, aber freundlich zu, bevor sie begann, den Konferenztisch abzuräumen. Das Tablett in ihren Händen wurde dabei zur natürlichen Verlängerung ihrer Bewegungen, während sie die Überreste der Zusammenkunft einsammelte: Halbvolle Wassergläser, in denen sich das fahle Neonlicht spiegelte. Papiere mit hastig gekritzelten Notizen, die nun bedeutungslos geworden waren. Ein vergessener Kugelschreiber, dessen goldene Spitze anklagend auf die Tür wies, durch die die Mächtigen soeben verschwunden waren.

Sorgfältig stellte sie Flaschen und Gläser auf ihr Tablett und schien sich wie immer von nichts aus der Ruhe bringen zu lassen. “Aus Kim wird auch mal eine friedvolle Kriegerin”, dachte Antonia lächelnd, die sie beim Aufräumen beobachtete. “Das ist keine Prinzessin, die sich erst die Krone richten muss. Die setzt sich so ein nutzloses, wackeliges Ding gar nicht erst auf den Kopf, sondern packt gleich an.”

Auch die anderen sechs Berater, die ebenfalls noch im Raum verweilten, beobachteten Kims effiziente Bewegungen mit einer Mischung aus Bewunderung und Nachdenklichkeit. In den grauen Fluren des Konzerns waren Werkstudenten oft so unsichtbar wie die Schatten an den Wänden – und genau wie Schatten fingen sie alles auf, was im Licht geschah. Kim hatte in den letzten Monaten mehr gesehen und gehört als die meisten ahnten. Ihre Hände sortierten Unterlagen, während ihre Augen kurz zu der Stelle wanderten, wo zuvor Sandoval und Dupont gesessen hatten. Für einen flüchtigen Moment huschte etwas wie Wissen über ihr Gesicht, verschwand aber sofort wieder unter ihrer professionellen Maske.

Luc, der sich seinen Mantel überstreifte, fing diesen Blick auf. Er hatte in seiner Karriere gelernt, dass die wichtigsten Informationen oft von denen kamen, die niemand beachtete. Die Putzfrau, die abends die vertraulichen Gespräche in den Büros mitbekam. Der Praktikant, der die falschen Mails auf dem Drucker fand. Die Werkstudentin, die die versteckten Blicke und geflüsterten Worte bemerkte. Seine Hand glitt in die Manteltasche und er tastete nach seinen Wattestäbchen: Word Waste Wiper – perfekt, um nach einem Meeting den ganzen verbalen Müll aus den Ohren zu bekommen: inhaltsleere Phrasen, Floskeln und Worthülsen. “Genau das, was ich gleich brauche.” seufzte er in Gedanken. Dann drehte er sich zu den anderen um.

Durch die hohen Fenster drang das gedämpfte Grau des Regentages, vermischte sich mit dem künstlichen Licht der Deckenlampen zu einer unwirklichen Atmosphäre. Der Regen hatte sich in einen feinen Nieselregen verwandelt, der wie ein Schleier vor den Fenstern hing. Die Tropfen zeichneten komplizierte Muster auf die Scheiben, ganz so, als würden sie eine geheime Botschaft schreiben.

Julia Breuer trat als letzte an den Beratern vorbei, ihren Pro M3 Max wie ein Schild vor der Brust tragend. Ihre Schritte klangen unsicher auf dem polierten Boden, als würde sie mit jedem Schritt erwarten, dass sich der Boden unter ihr öffnete. Die perfekt vorbereitete Präsentation, ihre übliche Rüstung aus Grafiken und Zahlen, hatte sie heute nicht geschützt. Als sie an Antonia vorbeikam, zitterte ihre Stimme leicht: “Ich muss jetzt erstmal zu Isabelle, sie erwartet einen Bericht von mir über das Meeting. Kann ich dich heute Abend vielleicht mal anrufen?” Der Versuch, professionelle Distanz zu wahren, wurde von der unterschwelligen Panik in ihrer Stimme konterkariert. Antonia und sie hatten sich im Laufe der Zeit angefreundet und für Julia war Antonia fast so etwas wie eine Stütze geworden, um in den Anforderungen des Projektes nicht unterzugehen. `Bei der Chefin ist das auch kein Wunder`, dachte Antonia. Laut sagte sie: “Tut mir leid, Julia, heute geht leider nicht. Aber wir können morgen einen Kaffee trinken gehen, wenn du magst.” Aufmerksam musterte sie Julia. Die Aussicht auf ein Gespräch schien ihr Mut zu geben. “Alles klar, das machen wir. Ich rufe dich an. Jetzt muss ich erstmal hoch ins Büro.” Damit drehte sie sich um und schritt zügig aus dem Raum und in Richtung der Aufzüge. Antonia sah ihr nach. “Ich glaube, diese Geduld hätte ich nicht.”, erklang plötzlich Joshuas tiefe, ruhige Stimme neben ihr. Antonia drehte sich zu ihm um und entgegnete schmunzelnd: “Das glaube ich auch.” Dann wurde sie wieder ernst. “Gehen wir zu den anderen. Wir haben eine Menge zu besprechen.”

Währenddessen beobachtete Kim weiterhin die Szene, während sie methodisch den Raum aufräumte. Ihre Bewegungen hatten etwas Beruhigendes, fast Meditatives, als würde sie nicht nur die physischen Überreste des Meetings beseitigen, sondern auch die schwere Atmosphäre des Scheiterns Stück für Stück auflösen. Luc, der Kim immer noch nachdenklich musterte, bemerkte, wie sie kurz innehielt, als sie an Sandovals verlassenem Platz die Wasserkaraffe aufhob. Ihr Blick fiel auf etwas unter dem Tisch – vielleicht ein vergessenes Papier, eine fallengelassene Notiz. Für einen Moment schien sie zu zögern, dann bewegte sie sich weiter, so natürlich und fließend wie zuvor. Doch Luc hatte das kurze Stocken bemerkt, diese minimale Unterbrechung in der sonst so perfekten Choreographie ihrer Bewegungen.

Der Konferenzraum leerte sich wie eine ablaufende Sanduhr, bis nur noch die sieben Berater und die Werkstudentin übrig waren. Die Stille hatte sich verändert – von der erdrückenden Schwere des Scheiterns zu etwas fast schon Erwartungsvollem. Durch die Glaswände konnten sie sehen, wie Sandoval und Dupont mit dem Sicherheitschef Viktor Stein den Gang entlang zum Aufzug gingen. Ihre Schatten verschmolzen kurz zu einer dunklen Masse, bevor sie um die Ecke verschwanden.

Luc spürte, wie sich sein Nacken verspannte – eine körperliche Manifestation des Unbehagens, das ihn seit dem Meeting nicht losließ. In seinen vielen Jahren als Berater hatte er gelernt, seinen Instinkten zu vertrauen. Sie waren schärfer als jede PowerPoint-Analyse und ehrlicher als jeder Statusbericht. Das hier war mehr als das übliche Spiel von Macht und Einfluss. Es fühlte sich an wie der Beginn von etwas Größerem, als würde man den ersten Donner eines herannahenden Gewitters hören, noch bevor die schwarzen Wolken am Horizont sichtbar wurden.

“Wir sollten gehen”, sagte er schließlich, seine Stimme leise aber fest. Die anderen nickten, sammelten ihre Sachen ein. Kim hatte inzwischen fast den gesamten Raum aufgeräumt, nur noch wenige Spuren des Meetings waren übrig. Als die Berater den Raum verließen, drehte sich Luc noch einmal um. Kim stand am Fenster, das Tablett ordentlich bestückt vor sich, und blickte hinaus in den Regen. Für einen Moment wirkte sie nicht wie eine Werkstudentin, sondern wie eine stille Beobachterin, die mehr wusste, als sie je sagen würde. Dann drehte sie sich um, nickte ihm höflich zu und verschwand durch eine Seitentür, die zum Personalbereich führte.

Der Nieselregen hatte sich in einen stetigen Schauer verwandelt, als die sieben das Gebäude verließen. Die Straßenlaternen spiegelten sich in den Pfützen wie versunkene Monde, ihre Lichter durch die Bewegungen des Regens in tausend Fragmente zerbrochen. Die Luft roch nach nassem Asphalt und dem metallischen Hauch der Stadt. Hinter ihnen erhob sich die Konzernzentrale wie ein düsterer Monolith gegen den bleigrauen Himmel, ihre Glasfassade nun ein Wasserfall aus künstlichem Licht und Regentropfen.

Pia zog ihren Mantelkragen höher und fluchte leise zwischen zusammengebissenen Zähnen. “So eine verdammte Scheiße.” Ihre Worte formten kleine Dampfwolken in der kühlen Luft. “Wir haben es kommen sehen. Jeder einzelne beschissene Schritt in diese Katastrophe – wir haben es gesehen.” Die Wut in ihrer Stimme war echt, aber da war noch etwas anderes. Etwas, das klang wie Überzeugung und beginnende Entschlossenheit.

Dimitri legte ihr kurz die Hand auf die Schulter, eine Geste, die gleichzeitig beruhigend und aufmunternd wirken sollte. Seine dunklen Augen schweiften über die Fassade des Gebäudes. “Die Frage ist nicht, was wir gesehen haben”, sagte er mit seiner tiefen, ruhigen Stimme, die selbst dem Regen eine gewisse Würde verlieh. “Die Frage ist, was wir übersehen haben.”

Sie bogen in eine dämmrige Straße ein, ihre Schritte hallten als unregelmäßiger Rhythmus auf dem nassen Pflaster. Um sie herum tauchten andere Mitarbeiter des Konzerns in ihre Autos ein, hasteten zu U-Bahn-Eingängen oder spannten Regenschirme auf – alle auf der Flucht vor dem Regen und den Ereignissen des Tages. Nur die sieben schienen keine Eile zu haben, als würden sie instinktiv spüren, dass jeder Schritt sie weiter von einer Welt entfernte, in die sie nie wieder zurückkehren würden.

Joshua kickte eine leere Getränkedose aus dem Weg, die metallisch über das Pflaster schepperte. “Wisst ihr noch, was unsere Werksstudentin gesagt hat, als sie letzte Woche die Server-Logs durchging?” Er wartete nicht auf eine Antwort. “Sie meinte, da wären Zugriffe gewesen, die keinen Sinn ergeben. Mitten in der Nacht, von Terminals, die eigentlich stillgelegt sein sollten.”

Barbara blieb abrupt stehen, Regentropfen rannen ihr übers Gesicht. “Moment mal. War das nicht genau in der Woche, als die ersten Systeme anfingen zu spinnen?” Ihre analytische Ader erwachte, begann Verbindungen zu knüpfen, die vorher im Chaos des Projektalltags untergegangen waren.

Torben, der bisher geschwiegen hatte, zog sein Smartphone hervor. Der Bildschirm leuchtete gespenstisch in der Dämmerung. “Ich hab da was”, murmelte er, seine Finger flogen über das Display. “Statistiken über die System-Performance der letzten Monate. Aber seht mal hier – diese Ausschläge. Die folgen einem Muster.”

Sie drängten sich unter dem schmalen Vordach eines geschlossenen Ladens zusammen, um auf Torbens Bildschirm zu schauen. Luc beobachtete ihre Gesichter im bläulichen Licht des Smartphones. Da war etwas in ihren Augen – ein Funke des Erkennens, als würden Puzzleteile an ihren Platz fallen. Er dachte an den Blick zwischen Sandoval und Dupont, an Kims kurzes Zögern unter dem Konferenztisch, an die seltsame Selbstzufriedenheit in Sandovals Haltung während des Meetings.

“Die Kneipe ist gleich um die Ecke”, sagte Antonia leise. “Und ich glaube, wir haben eine Menge zu besprechen.” Sie hatte ihre Haare zu einem praktischen Knoten gebunden, einzelne Strähnen hatten sich im Regen gelöst und kringelten sich in ihrem Nacken. Ihre Augen hatten diesen Ausdruck, den die anderen nur zu gut kannten – den Blick einer Jägerin, die eine Fährte aufgenommen hatte.

Die “Alte Garde” war eine dieser Kneipen, die man nur fand, wenn man wusste, wo man suchen musste. Kein Schild wies den Weg, da war nur eine schlichte Messingtür zwischen einem Zeitungskiosk und einem Schuhmacher. Das warme Licht, das durch die beschlagenen Fenster drang, versprach Zuflucht vor dem Regen und der Kälte – und vielleicht noch mehr als das.

Luc blieb kurz stehen und blickte zurück. Die Konzernzentrale ragte in der Ferne dröhnend in den Abendhimmel, ihre beleuchteten Fenster wie hunderte kalte Augen, die sie zu beobachten schienen. Irgendwo dort oben, dachte er, in einem dieser erleuchteten Fenster, saßen Sandoval und Dupont vermutlich noch immer in ihren Büros. Planten. Berieten. Verschleierten.

“Kommst du?”, fragte Antonia leise. Sie stand bereits auf der obersten Stufe vor der Kneipentür, eine Hand auf dem messingfarbenen Türgriff. Sie öffnete die Tür  und warme, rauchige Luft schlug ihnen entgegen. Der gedämpfte Lärm von Stimmen und das Klirren von Gläsern versprach eine andere Welt. Eine Welt von Möglichkeiten. Vielleicht auch von Antworten.

Bevor Luc die Stufen hinaufstieg, ließ er seinen Blick ein letztes Mal über die regennasse Straße schweifen. Der Tag hatte als das Ende eines gescheiterten Projekts begonnen. Aber während er seinen Kollegen in die Wärme der Kneipe folgte, beschlich ihn das deutliche Gefühl, dass dies erst der Anfang war. Von was, das konnte er noch nicht sagen. Aber die Unruhe in seiner Brust, dieses nagende Gefühl, dass etwas ganz und gar nicht stimmte – es war stärker als je zuvor.

Die Tür fiel mit einem dumpfen Ton  hinter ihnen ins Schloss. Draußen flackerte die alte Gaslaterne im Wind, warf zuckende Schatten auf das glänzende Pflaster. Der Regen hatte aufgehört, doch die Luft war schwer von Erwartung.

Fachliche Einordnung des Geschehens im Capture 1

Systemisches Versagen: Eine Analyse der Grundprobleme von Strategie, Kulturwandel und Agilität im Kontext des gescheiterten Digitalisierungsprojekts.

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