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Chapter 2: Der Rausch vor dem Sturm

„Manchmal muss man scheitern, um zu verstehen, dass der Erfolg sowieso am falschen Ort gesucht wurde.“

Musik:

The Clash „Clampdown“

Die vergilbten Schwarz-Weiß-Fotografien an den Wänden der “Alten Garde” waren stumme Zeugen unzähliger Gespräche. Arbeiter vor gewaltigen Maschinen, ihre Gesichter hart von der Arbeit, aber stolz. Aufnahmen von Fabriken, deren Schornsteine sich düster gen Himmel reckten. Bilder eines Kampfes, der nie wirklich endete. In einer Ecke flimmerte ein alter Röhrenfernseher, auf dem lautlos in schwarzweiß ein Western lief – ein einsamer Cowboy, der durch eine staubige Straße ritt, sein Gesicht verbittert und entschlossen. Aus den versteckten Lautsprechern dröhnte The Clash’s “London Calling”, Joe Strummers raue Stimme eine perfekte Untermalung für ihre eigene Rebellion.

Die schwere Eichenplatte ihres Stammtischs war von Jahren des Gebrauchs gezeichnet, übersät mit den Narben zahlloser Augenblicke: eingebrannte Zigarettenlöcher, eingeritzte Initialen, die verblassten Kreise von Biergläsern – jede Markierung eine Geschichte, die niemand mehr erzählen konnte. Seit Beginn des Projekts vor fast zwei Jahren hatten sie sich regelmäßig hier getroffen. Sieben Fremde, die durch die gemeinsame Arbeit schnell gemerkt hatten, dass sie vieles verband – in erster Linie Werte und eine klare Vorstellung vom Herangehen an Veränderungsprojekte. Aber auch eine Portion Hartnäckigkeit und das manifestierte Bedürfnis, wirklich etwas bewirken und verändern zu wollen. Jetzt saßen die sieben um den Tisch herum, versunken in die Ereignisse des Tages, ihre Gläser zum Teil halb geleert.

“Manchmal”, sagte Joshua und ließ seinen Finger über eine besonders tiefe Kerbe im Holz gleiten, “fühle ich mich wie diese verdammte Tischplatte. Voller Narben von all den Schlachten, die wir geschlagen haben.” Er nahm einen weiteren Schluck von seinem Bier, das im gedämpften Licht wie flüssiges Gold schimmerte.

Pia, deren scharfe Züge im Halbdunkel noch markanter wirkten, starrte auf die feuchten Ringe, die die Gläser auf dem Tisch hinterlassen hatten. Sie bildeten ein Muster wie die Jahresringe eines Baumes. Heute waren es Kreise der Frustration und geplatzter Hoffnungen. “Es war von Anfang an zum Scheitern verurteilt”, murmelte sie schließlich. “Und wir wussten es. Der ganze Filz war gegen uns.”

Die Kunst des Scheiterns

Dimitri zündete sich mit geübter Bewegung eine Zigarette an. Das kleine Feuerzeug flackerte kurz auf und erhellte für einen Moment seine müden Augen. “Das Problem ist doch”, sagte er und blies den Rauch in kunstvolle Kringel, “dass es immer dasselbe ist. Die Leute haben keine Eier in der Hose, was zu ändern. Stattdessen schieben sie ihre Verantwortung wie heiße Kartoffeln hin und her.”

Barbara, die bisher schweigend ihr Glas zwischen den Händen gedreht hatte, hob den Blick. Das warme Licht der alten Messinglampe über ihrem Tisch spiegelte sich in ihren Augen. “Und wir sind die, die am Ende den Mist ausbaden”, sagte sie leise, aber mit einer Härte in der Stimme, die alle aufhorchen ließ. “Wir haben die Ideen, die Konzepte, aber am Ende läuft alles ins Leere.”

“Die Kultur”, nickte Torben und schob sein leeres Glas von sich. “Jeder ist nur darauf aus, seine eigene Position zu sichern. Da wird gelogen, blockiert und intrigiert, bis nichts mehr geht. Nur Taktik. Keiner denkt an das Große und Ganze.”

Hinter ihm tanzte der Regen weiter gegen die Fenster und vermischte sich mit den gedämpften Gesprächen in der Kneipe und Joe Strummers Stimme im Hintergrund zu einer bodenständigen, ehrlichen Atmosphäre, in der der Schein in die Irrelevanz verschwand und Wahrhaftigkeit frei atmen konnte.

Das ewige Karussell der Ignoranz

Inmitten dieser momentanen Insel tatsächlicher Offenheit beobachtete Luc, wie sich das Kondensat an seinem Bierglas in kleinen Rinnsalen seinen Weg nach unten bahnte. Wie viele Abende hatten sie schon so gesessen, ihre Frustration in Alkohol getaucht, Ideen erörtert, neue Lösungen gesponnen und sich dabei gegenseitig versichert, dass sie dieses Projekt schon noch zum Erfolg führen würden?

“Wir haben uns durch endlose Meetings gequält”, sagte er schließlich, seine Stimme ruhig, aber mit einem Unterton, der die anderen aufhorchen ließ. “Vorschläge gemacht, Warnungen ausgesprochen – und alles wurde ignoriert oder verwässert, bis nichts mehr davon übrig war.” Er sah in die Runde. “Die Frage ist doch: Warum machen wir das überhaupt noch mit?”

“Wir dachten, wir könnten etwas bewegen”, antwortete Joshua. Er beugte sich vor, seine Augen leuchteten im Halbdunkel. “Wir haben das Zeug dazu, wurden aber ständig ausgebremst. Wir kennen das aus so vielen anderen Projekten. Immer dieselbe Scheiße.”

“Aber warum?” Pias Stimme hatte einen harten, fast fordernden Klang angenommen. “Warum werden wir immer wieder gebremst, egal ob allein oder im Team? Liegt es an uns?” Ihr Blick lief fragend von einem zum anderen.

Antonia schüttelte schließlich den Kopf. Ihre dunklen Locken warfen tanzende Schatten an die Wand. “Es liegt nicht an uns. Es liegt am System. Alle reden von Innovation, aber wenn es darauf ankommt, will keiner den ersten Schritt machen oder die Dinge wirklich bis zum Schluss durchziehen.” Schweigen folgte ihren Worten. Ein nachdenkliches, versonnenes Schweigen. Die sieben Freunde schauten vor sich hin, jeder in eigenen Gedanken versunken, die Antonias Worte in ihnen angestoßen hatten.  

Wenn Gedanken Gestalt annehmen

“Vielleicht”, begann Luc langsam, als würde er jeden einzelnen Buchstaben abwägen, “sollten wir das System hinter uns lassen.”

Das Schweigen am Tisch änderte sich, wurde erwartungsvoll. Alle Blicke richteten sich auf Luc, jeder herausgerissen aus seinen Gedanken, jetzt wieder fokussiert auf das Hier & Jetzt. Joe Strummers Stimme drang durch die Stille, sang von Rebellion und Veränderung. Die Worte schienen in der Luft zu schweben, greifbar wie der Rauch von Dimitris Zigarette.

“Was, wenn wir unser eigenes Ding machen?” Torben griff Lucs Gedanken auf, seine Stimme vibrierte vor unterdrückter Energie. “Wir sind gut genug. Wir müssen diese Spiele nicht mitspielen. Vor allem nicht, wenn wir uns zusammentun.”

Das Schweigen verdichtete sich, wurde zu etwas Fassbarem. In den Gesichtern der sieben spiegelte sich eine Mischung aus Zweifel und wachsender Entschlossenheit. Antonia war die Erste, die lächelte – ein langsames,, verheißungsvolles Lächeln, das die anderen sofort verstanden.

“Ein Team”, sagte sie leise. “Eins, das all das tut, wovon wir die ganze Zeit reden. Ohne die Scheuklappen. Ohne das ewige Verantwortungspingpong.”

Luc spürte, wie sich in seinem Kopf Puzzleteile zusammenfügten. “Wie in einer Küche”, sagte er, und seine Augen bekamen einen fiebrigen Glanz. “Wir bringen unsere besten Zutaten zusammen – unsere Fähigkeiten, unser Wissen – und wir kochen etwas, das wirklich funktioniert. Etwas Radikales.”

The Clash wechselte zu “Clampdown”, der Bass vibrierte durch die alten Holzdielen. Joshua trommelte den Rhythmus mit den Fingern auf den Tisch, sein Gesicht plötzlich voller Leben. “Ein Stew”, murmelte er. “Ein wilder Eintopf aus allem, was wir draufhaben.” Er hielt inne, ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. “Stewpunk – das ist es!”

Das Wort hallte durch den Raum wie Donnergrollen und blieb dann vibrierend in der Luft stehen. “Stewpunk”, wiederholte Luc, kostete jeden Buchstaben aus. “Rebellisch. Anders. Unser eigenes Ding.”

“Ein Eintopf, der alle Regeln bricht”, grinste Barbara, und zum ersten Mal an diesem Abend erreichte das Lächeln ihre Augen.

“Wie ein Pogo”, sagte Antonia plötzlich, ihre Augen leuchteten. “Kennt ihr Gitta Peyns Text über Pogofähigkeit? Das ist genau das, was wir brauchen – diese wilde, ehrliche Energie. Keine passive Aggression mehr, kein verstecktes Machtspiel, sondern direkte Konfrontation und echte Hilfsbereitschaft.”

Dimitri nahm einen letzten Zug von seiner Zigarette. “Stimmt. Wie Gitta schreibt: Im Pogo gibt’s keine Politik, keine Hierarchie. Da zeigst du dich, wie du bist – mit all deiner Wut, deiner Energie. Aber du passt auch auf die anderen auf.”

“Genau das”, nickte Antonia enthusiastisch. “Wir brauchen diese Pogofähigkeit in der Businesswelt. Keine schwachen Kompromisse mehr, kein Verstecken hinter PowerPoints, Organisationen und Prozessen. Stattdessen: Vollkontakt. Echte Emotionen. Echte Zusammenarbeit.”

“Und wenn jemand hinfällt…”, begann Joshua.

“…dann helfen wir ihm wieder auf”, vollendete Pia den Satz. “Aber wir hören nicht auf zu tanzen, nur weil es mal Blessuren gibt.”

Luc lehnte sich zurück, ein nachdenkliches Lächeln auf den Lippen. “Stewpunk und Pogofähigkeit – das passt verdammt gut zusammen. “Die Wild Card im sozial gedämpften Raum”, zitierte Barbara leise. “Das sind jetzt wir.”

Sie sahen sich in die Augen und hoben ihre Gläser, das Klirren vermischte sich mit den letzten Akkorden von “Clampdown”. In diesem Moment, zwischen abgestandenem Bier und rebellischer Musik, zwischen Frustration und Hoffnung, wurden die Stewpunks geboren – mit der Energie eines Pogo und dem Versprechen echter Reibung und Veränderung.

Zeichen der Unsichtbaren

In diesem Moment erstarrte Torben, dessen Platz ihm einen direkten Blick auf die Straße ermöglichte, mitten in der Bewegung. Draußen vor einem der Fenster, im diffusen Licht der Straßenlaterne, stand eine Gestalt in einem dunklen Mantel. Das Gesicht war nicht zu erkennen, aber ihre Haltung verriet eine gespannte Aufmerksamkeit und ihr Blick schien direkt auf die Stewpunks gerichtet zu sein.

“Da draußen…”, begann Torben leise, ohne den Blick von der Gestalt zu wenden. “Kennt jemand von euch diese Person?”

Die anderen drehten sich zum Fenster. Die Gestalt stand regungslos im Nieselregen, das Wasser perlte von ihrem Mantel ab wie flüssiges Silber.

“Eine Frau, würde ich sagen”, murmelte Antonia. “Die Haltung…”

Bevor jemand antworten konnte, drehte sich die Gestalt abrupt um und verschwand in der Dunkelheit. Ihre Bewegungen waren präzise, fast katzenhaft – zu kontrolliert für einen zufälligen Passanten.

“Merkwürdig”, sagte Antonia leise. Ihre Augen hatten den Ausdruck eines Jägers angenommen, der entschlossen war, seinem Wild nachzustellen. Ein Ausdruck, den die anderen gut von ihr kannten und dessen dahinter liegenden Kampfgeist sie an Antonia schätzten.

“Wartet mal”, Torben erhob sich von seinem Stuhl. “Ich glaube, die Person hat etwas auf das Fensterbrett gelegt.”

Er ging zur Tür, öffnete sie vorsichtig. Der Nieselregen und das gedämpfte Straßengeräusch drangen kurz in den Raum. Als er zurückkam, hielt er einen großen, gelben Umschlag in den Händen. Auf der Vorderseite stand in klaren, präzisen Buchstaben: “Für die Berater.”

“Was zum Teufel…”, begann Pia, aber Torben hatte den Umschlag bereits geöffnet. Ein einzelner USB-Stick fiel auf den Tisch, schwarz und unscheinbar wie ein Stück Treibholz an einem dunklen Strand. “Das wird ja immer besser”, murmelte Pia. “Was soll das denn jetzt?”

“Ich habe seit diesem Meeting schon die ganze Zeit so ein ungutes Gefühl”, sagte Luc langsam. Seine Augen waren auf den Stick gerichtet, als könnte er die Geheimnisse darauf durch das schwarze Plastik hindurch erkennen.

Joshua griff nach dem Stick. “Nicht hier”, sagte er bestimmt. “Es ist schon spät, es ist viel geschehen heute und wir brauchen einen klaren Kopf. Morgen Abend, bei mir im Loft. Wir treffen uns um sechs, kochen zusammen, und dann…” Er nickte in Richtung des USB-Sticks in seiner Hand, steckte ihn ein und ließ den Satz unvollendet.

Sie alle verstanden. Was als Treffen zur Frustrationsbewältigung begonnen hatte, war zu etwas anderem geworden. Die Stewpunks waren geboren, und das Universum schien bereits auf ihre Existenz zu reagieren.

Luc hob sein Glas ein letztes Mal. “Auf uns”, sagte er einfach. Die anderen folgten ihm. Das Klirren ihrer Gläser vermischte sich mit den ersten Takten eines neuen Songs, der durch den Raum dröhnte. Draußen fiel der Regen weiter, wusch die Spuren der geheimnisvollen Besucherin von den Pflastersteinen. Aber ihre Botschaft lag sicher in Joshuas Tasche, ein digitales Versprechen auf Enthüllungen, von denen sie noch nichts ahnten und die ihr Leben für immer verändern würden.



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